„Die Gams im Alpenraum – wie.weiter?”

Kurzbericht über die Fachtagung des FUST-Tirol am.8..und.9..November 2019 in Achenkirch – aktualisiert am 23. Dez. 2020

Tagungsprogramm 
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„Forschung und Dialog für nachhaltige Lösungen für alle Naturnutzer“ lautete das Motto der Fachtagung des Fust Tirol. Mit Leben erfüllt wurde es durch die Begrüßung der Tagungsteilnehmer von HUBERTINE UNDERBERG-RUDER, die den FUST und dessen Bemühungen um Umwelt, Naturschutz und nachhaltige Nutzung seit 1970 begleitet, gefördert und geprägt hat. Einige der „langen Linien” dieses Zeitraums erscheinen ihr besonders wichtig: Neugier der Mitwirkenden mit positiver Stimmung gegenüber Forschung, Lösungsorientierung zwischen Fachleuten und Praktikern, der FUST als Schnittstelle aller Beteiligten mit Austausch auf Augenhöhe, Qualifikation in Form von ideologefreier, sachlicher wie auch qualifizierter Auseinandersetzung und ein Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Sicht. Praxis kann von Forschung lernen, aber die Forschung lernt auch von den Praktikern. Forscher bieten Ergebnisse und sind bereit, darüber zu diskutieren, Kritik zu üben und sich ebenso kritisieren zu lassen.

FRIEDRICH REIMOSER knüpfte daran an und verwies auf die teilweise unterschiedlichen Gams-Erfahrungen und Erkenntnisse der Tagungsteilnehmer in den verschiedenen Ländern und Regionen des Alpenraums. Die Lösung von Problemen sei nur durch ganzheitliches Herangehen an das Thema denkbar: „Dies geht nur im Team und heute sind die Teilnehmer das Team!” Genau dies war der thematische Schwerpunkt am ersten Tag der Fachtagung, moderiert von SVEN HERZOG (Univ. Dresden und FUST):

Aus „Schweizer Perspektive” erläuterte CHRISTIAN WILLISCH (Univ. Bern) die Bestands- und Streckendaten der Gams in den Kantonen Bern und Schwyz, die Wirkung der Jagd und weiterer Einflussfaktoren (u. a. Klima, Konkurrenz, Krankheiten, Luchs, Freizeitaktivitäten) (→ Infos zum Vortrag Willisch, pdf). Aufgrund der großen regionalen Unterschiede und Änderungen der Jagdvorschriften sind die in einem Zeitraum von 30 Jahren erzielten Ergebnisse zur Entwicklung ausgewählter Populationen differenziert zu betrachten. Nicht nur wegen „methodenbedingter Änderungen” in Bestandsangaben wäre ein einheitlicher Vergleichsstandard wünschenswert, der zur Zeit jedoch noch nicht vorhanden ist. Daher lassen sich lediglich Trends ableiten. Obwohl der Bestand lokal rückläufig ist, geht es der Gams in der Schweiz „nicht grundsätzlich schlecht”. Die Jäger lösten weniger Gams- und mehr Hirschpatente, was auf eine Verlagerung von der Gams- zur Hirschjagd hinweist.

Auch für LOTHAR GERSTGRASSER (Südtiroler Jägerverband) lässt sich eine einheitliche „Italienische Perspektive” aufgrund verschiedenartiger Regionen, Zuständigkeiten, Schutzgebiete usw. nicht darstellen (→ Infos zum Vortrag Gerstgrasser, pdf). So gibt es z..B. in Südtirol keine verpflichtende Bestandserhebung und gesammeltes Datenmaterial über die Gams im italienischen Alpenraum ist nicht vorhanden. Dennoch konnte er aus den Unterlagen des Südtiroler Jägerverbands eine Fülle von Daten präsentieren. So hat die Verbreitung der Gams in Südtirol stark zugenommen. Auch ist sie immer häufiger in Tallagen zu finden, wobei die Obstbaugebiete gemieden werden: „’Wo gibt es keine Gams’ ist leichter zu sagen als ’Wo gibt es Gams?’”. Die Aussage „Gams ist nicht gleich Gams” wies prägnant daruaf hin, dass etwa in den trockenen Kalkgebieten die Gamsen kleiner sind. Hohe Dichten waren mit geringerem Körpergewicht verknüpft und alte Gams würden insgesamt seltener. Hauptkonkurrenten der Gams sind Schafe und Ziegen.

→ In der anschließenden Diskussion wurde u. a. bemerkt: Die Gams-Verbreitung sei in der Nachkriegszeit allgemein nicht größer, sondern deutlich kleiner gewesen als heute. Fallwild erlaube – z. B. in den von Willisch untersuchten Strecken – keine Rückschlüsse auf den Bestand. Bei Zählungen würden die Bestände sehr oft unterschätzt. In der Schweiz steht die Gams auch rund um die Weinberge und wird dort – im Gegensatz zu früher – auch gejagt. Die Westalpenbestände der Gams seien jedoch wesentlich geringer als die Ostalpenbestände.

Aus „Österreichischer Perspektive” betonte auch RUDOLF REINER (Boku Wien) die regionalen Unterschiede (→ Infos zum Vortrag Reiner, pdf). In den meisten Gebieten seien die Gamsbestände leicht rückläufig, am deutlichsten in Tirol, letztlich aufgrund höherer Abschusszahlen. Dagegen sei in Kärnten und in der Steiermark ein geringfügiger Anstieg zu verzeichnen. Nicht so sehr die Zahl, sondern vor allem die Verteilung der Gams hätte sich verändert, denn sie sucht im Vergleich zu früheren Zeiten heute häufiger auch die Wälder auf. Seine weiteren Themen waren das Revierjagdsystem, wildökologische Raumplanung, interspezifische Konkurrenz und die Optimierung des Monitorings sowie der Einfluss von Jagd und Schneefall. Einen ausgeprägten Zusammenhang vermutete REINER zwischen den über dem Mittelwert liegenden Sommertemperaturen der vergangenen Jahre und dem deutlich gesunkenen Gewicht von Gams-Jährlingen. Ziel der anzuwendenden und vom Lebensraum bestimmten Managementstrategien ist die Optimierung von Fortpflanzung und/oder Körpermasse.

Über verschiedene Probleme im relativ geringen bayerischen Alpenanteil (3.% der Alpen-Gesamtfläche) referierte CHRISTINE MILLER aus „Deutscher Perspektive” (Infos zum Vortrag Miller, pdf). Hier sei die Gams derzeit eher eine politische als eine kulturhistorische Frage. Die in deutschen Ländern unterschiedlichen Verwaltungsebenen seien in Bayern allein bei den auch für forstliche Belange zuständigen Behörden angesiedelt. Die letztlich fachlich zuständigen Landkreise würden die Vorgaben lediglich umsetzen, wobei es an fachlicher Kompetenz mangelt. Letztere könnte zwar von der Jägerschaft kommen, welche durchaus gehört wird, sich jedoch in einer Minderheitenposition befindet und überstimmbar ist. Für Forschungsarbeiten in jenen Gamsgebieten, die sich im Staatswald befinden (rund 65 %), ist allein die staatliche Forstverwaltung (AöR) zuständig und entsprechende Projekte werden praktisch ausschließlich von Mitarbeitern oder Auftragsnehmern der (ihrerseits vom Ministerium abhängigen) Landesanstalt f. Wald u. Forstwirtschaft durchgeführt. Weitaus günstigere Forschungsmöglichkeiten als im Staatswald bestehen in den Privatwäldern (insgesamt 30 % der Gamsgebiete, überwiegend im Allgäu). CHRISTINE MILLER mahnte für die Gams die Einhaltung der FFH-Richtlinie und Berner Konvention an, wonach der „günstigste Erhaltungszustand nicht gefährdet werden darf”. Um dies zu gewährleisten, wären zeitgemäße Monitoring-Methoden anzuwenden, was derzeit nicht geschieht. Damit missachte das bayerische Gamsmanagement die Verpflichtung der FFH-Richtlinie. Frau MILLER verwies zudem auf Analysen, die eine Überschätzung und Übernutzung des bayerischen Gamsbestands belegen. Als Alternative zur Erfassung von aussagekräftigen Daten blieben eine „Indizienkette” oder gar die „Undercoverforschung”. Selbst die gesetzlich verpflichtenden Hegeschauen würden hier nicht weiter helfen, denn Trophäenanhänger wurden zum Beispiel geschwärzt oder nicht mehr ausgefüllt, so dass keine Rückschlüsse möglich waren.

Trotz dieser Einschränkungen präsentierte die Referentin dennoch interessante Ergebnisse über die Entwicklung der Gamsstrecke, Monitoringansätze und Schlussfolgerungen auf den Ist-Zustand des Gamsbestands in Bayern, einschließlich einiger Unterschiede zwischen Staats- und Privatwald. Als „Achillesfersen” sah sie Störungen (anthropogen, Konkurrenz), Sommer- und Wintereinstände, Sozialstruktur und Krankheiten, evtl. auch schon den Klimastress.

Diskutiert wurde zunächst die unterschiedliche Einschätzung der Sterblichkeit der Gams-Kitze in schneereichen Wintern mit der Vorstellung, dass jagdliche Eingriffe in die Jugendklasse die Wintersterblichkeit vorausnehmen. Unzufriedenheit mit den landesweiten Zählungen hätten ihre Ursache vor allem in methodischer Hinsicht (z. B. unterschiedliche „Referenzflächen”), die eine Vergleichbarkeit auch in Österreich und in der Schweiz erschweren. Auf den Vorhalt, dass in Bayern die Bestandszahlen zunehmen, obwohl „zu viel” geschossen wird und sie daher eigentlich abnehmen müssten, entgegnete CHRISTINE MILLER, dass es an belastbaren Daten hierzu fehlt. Zum Gamsbestand in Kern- und Randbereichen bemerkte sie, dass die Randbereiche etwa seit den 1980er Jahren sukzessive leergeschossen wurden und heute ausgedünnt oder bis auf einzelne Vorkommen weitgehend gamsfrei sind.

Die 5-Minuten-Kurzvorträge begannen mit DOMINIK THIEL (Amt f. Natur, Jagd u. Fischerei) zur Jagdplanung am Beispiel des Kantons St. Gallen und den Anpassungen an die veränderten Verhältnisse, z. B. bei der Analyse von Zuwachs und Abschussquote: „Wer alte Gämsen erlegen will, muss sie alt werden lassen”  (→ Infos zum Vortrag Thiel, pdf) • Für den Kanton Graubünden berichtete HANNES JENNY (Amt f. Jagd u. Fischerei) über einen mäßigen Anstieg des Gams-Bestands in den letzten Jahren („Der Gams geht’s gut!”) – nach zuvor 16 % Bestandsabnahme. Zum Lebensraum der Gams gehöre auch der Wald. Hinsichtlich der Jagd gilt im Kanton das FUST-Projekt als Vorbild (→ Infos zum Vortrag Jenny, pdf). ANDREAS AGREITER (Amt f. Jagd u. Fischerei) forderte für Südtirol die Verstärkung regelmäßiger Erhebungen. Die Altersstruktur der Gams könne über richtige Bejagung verbessert werden. Eine Gamsbejagung nach wildökologischen Erkenntnissen werde allerdings nicht immer realisiert. Der Grund sei mangelnde Abstimmung bei den Abschüssen. •  Über die Verbreitung der Gams in Slowenien berichtete MATIJA STEGAR (slowenischer Forstdienst): Einen Rückgang der Gamspopulation in Slowenien sieht er nicht. Im Nordwesten kommt die Gams häufig vor, südlich gibt es Inselpopulationen und im Osten ist sie selten. Systematische Zählungen gibt es leider nicht. Hauptproblem für die Managementplanung sind Störungen in ihrem Lebensraum, was Telemetrie-Ergebnisse belegten: starke Bewegungen im Tourismusmonat Juli im Vergleich zur Paarungszeit im November. Vorgeschlagen und geplant ist die Einrichtung von Ruhezonen (→ Infos zum Vortrag Stegar, pdf). • Die Kritik von CHRISTINE MILLER an den Verhältnissen in Bayern wurde von THOMAS SCHREDER (Bayerischer Jagdverband) aufgegriffen und ergänzt: Es mangelt an Monitoring und Datenmaterial. Politische Entscheidungen seien zu wenig wissenschaftlich untersetzt. Bewirtschaftung und Abschuss würden eigentlich nur auf – dafür letztlich ungeeigneten Vegetationsgutachten – basieren. Der Jagdverband fordert daher einen in Bayern angesiedelten Lehrstuhl für Wildbiologie.

→ Fazit der Diskussion mit engagierten Wortmeldungen war die Feststellung, dass es eigentlich genügend wissenschaftliche Einrichtungen gibt, dass aber mehr von dem, was die Wissenschaft erarbeitet hat, auch umgesetzt werden soll. WALTER ARNOLD (Vetmed. Univ. Wien) nannte als Beispiel die Störung der Winterruhe durch touristische Freizeitaktivitäten und Abschuss, was verstärkte Äsung und damit Waldschäden zur Folge hätte. Ruhezonen und Verzicht auf Bejagung im Spätwinter werden seit Jahrzehnten gefordert und sollten endlich umgesetzt werden. FRIEDRICH REIMOSER wies darauf hin, dass von kleinräumig stark konzentrierten Wildschäden, wie sie in Wald-Ruhezonen leicht vorkommen können, die Groß- und Kleinwaldbesitzer unterschiedlich betroffen seien. JOSEF STOCK (FUST-Tirol) bemerkte hierzu, dass sich der Jagddruck bei größeren Einheiten besser steuern ließe.

Der erste Tag der Fachtagung endete mit dem Schlusswort von SVEN HERZOG. Aus der Diskussion ergeben sich zwei zentrale Probleme: die Frage der Dichte bzw. des langfristigen und flächendeckenden Monitorings einerseits und die Frage der Schaffung einer angemessenen Altersstruktur andererseits. Interessant ist, dass offenbar verschiedene Wege zum Ziel führen können. Unterschiedliche Interessenlagen seien dabei normal. Den Ausgleich zu schaffen, ist das Tagesgeschäft des Wildtiermanagement. Allerdings müsse man – und das ist eine jagd- und naturschutzpolitische Aufgabe – verhindern, dass einzelne Partikularinteressen von vornherein als höherwertig gegenüber anderen eingestuft würden. Letzteres begünstigt konfrontative Ansätze.

Informationsaustausch und Diskussionen wurden beim gemeinsamen Abendessen fortgesetzt.

  

Am zweiten Tag präsentierte FRIEDRICH REIMOSER (FUST-Tirol / Univ. Wien) eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse mit persönlichen Bemerkungen. Die Kommunikationsprobleme in Bayern wären durch professionelles Wildtiermanagement unter Berücksichtigung ökologischer und soziologischer Aspekte sicherlich gut lösbar, wenn integral abgestimmte statt sektoral konfrontative Ansätze dominieren. Mit einem umfassenden Management und objektiver Erfolgskontrolle ließe sich die unbefriedigende Situation verbessern. Wenn aufgrund der Feststellung, dass die Gams jetzt häufiger als früher in Wäldern zu finden ist, von „Wald vor Wild” die Rede sei, könne dies nicht unwidersprochen bleiben, denn das Wild ist ein Teil des Ökosystems Wald. Nicht widersprüchlich wäre daher „Waldvegetation vor Wild”, doch beides ist wohl kaum zu trennen und in der Wertigkeit generell zu ordnen. In der Schweiz heißt z. B. „Freihaltungsgebiet“ freihalten von Bäumen im Interesse von Wildtieren, in Österreich hingegen freihalten von Schalenwild im Interesse der Waldvegetation aus forstlicher Sicht. In Österreich sei die Errichtung von Ruhezonen unbefriedigend, denn sie lassen sich nur selten konfliktfrei realisieren und einbinden und wenn Ruhegebiete ausgewiesen werden, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie auch ruhig sind (Mangel an Kontrolle und Sanktionen).

FLORIAN FILLI (Schweizerischer Nationalpark) berichtete über die Ergebnisse von Untersuchungen im Nationalpark (→ Infos zum Vortrag Filli, pdf). Auch er bestätigte, dass sich dort der Lebensraum der Gams bergabwärts in den Wald erweitert hat. Markierungen ergaben, dass der Fortpflanzungserfolg der Geissen hier vereinzelt schon im Alter von 2 Jahren einsetzte, bei etwa 8–11 Jahren sein Maximum erreichte und danach wieder abfiel. Dies beeinflusste wiederum das Durchschnittsalter der Populationen wie auch die Wilddichte. Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Gams war regional unterschiedlich, denn der innerartlichen und zwischenartlichen Konkurrenz kommt Bedeutung zu. Vor allem hatte ein hoher Hirschbestand negativen Einfluss auf den Gamsbestand. Im Nationalpark unterschieden sich die Aufenthaltsgebiete von Gams/Rothirsch/Steinbock u. a. hinsichtlich Biomasse (gering/hoch/variabel) und Stickstoffgehalt (mittel/variabel/hoch). Er bemängelte die Tendenz zu Störungen in Form von „Nacht-Skitouren” zu einer Zeit, in der die Gams ein starkes Ruhebedürfnis hat und sich am liebsten kaum bewegt.

Dass es in den 1960er Jahren – wie fast überall und in dem von ihm betreuten Betrieb – wenig Gams gegeben haben soll, lag nach JOSEF ZANDL (Gutverwaltung Fischhorn, Salzburg) vielleicht auch an der damaligen Zählungsmethode (→ Infos zum Vortrag Zandl, pdf). Zudem schwankten die Bestände in der ca. 10.000 ha großen Betriebsfläche von Fischhorn (ca. 8.000 ha Gamsfläche) aufgrund des Gams-Rückgangs durch Räudewellen (1971–1989 und 2012–2016: hier waren vor allem Böcke betroffen), nach denen ein jeweils kontinuierlicher Anstieg erfolgte. Gegen Ende einer jeden Räudewelle waren auch die Fallwildraten stark zurückgegangen. Geissen reagierten vielfach anders als Böcke. Jagd sieht JOSEF ZANDL nach wie vor als wesentlichen Faktor, diese sei immer noch stark auf die Trophäen fixiert. Die Offenhaltung der Landschaft durch die Land- und Almwirtschaft sei für die Gams eher positiv zu sehen: hier findet sie bei fehlender Verholzung vor allem frisches Gras, besonders bei „gelenkter Weide”, d. h. rechtzeitigem Almabtrieb → Nachwachsen von Gras → Äsungsverbesserung im Herbst. Mögliche Nachteile sind z. B. Elektrozäune oder Düngung. Zwei Diplomarbeiten belegten den Verlust an Gams-Lebensraum und die Beunruhigung durch Tourismus („Ausufernde Freizeitgesellschaft“), einschließlich der Hubschrauber-Rettungsflüge in den Skigebieten. Das Fluchtverhalten der Gams war unterschiedlich: in höheren Lagen bergaufwärts gerichtet, in tieferen Lagen stellten sich flüchtende Gämse zumeist nur in Waldflächen unter, wobei der kühlere Wald bevorzugt wurde. Geissen reagierten anders (zumeist empfindlicher) als Böcke. Verbesserungen sind von der österreichischen „Schutzwaldstrategie 20/50”, verbunden mit einer mit touristischen Belangen abgestimmten Wild/Gams-Raumplanung mit Sommer- und Winter-Ruhezonen zu erwarten.

→ Auch die Diskussion befasste sich zunächst mit der Frage, warum die Gams sich vermehrt im Wald einstellt, selbst wenn außerhalb keine Störungen vorliegen. FLORIAN FILLI begründete dies mit den niedrigeren Temperaturen im Wald, die besonders im Sommer oberhalb der Waldgrenze kaum zu finden sind (die Temperatur nahm zu und die Schneeschmelze hat sich verschoben). Einige Gämsen probierten es dann aus und andere folgten ihnen, wobei sich nach den Erfahrungen vor allem Jungtiere „experimentierfreudig” zeigen. WALTER ARNOLD betonte den Zusammenhang zwischen Temperatur und Aktivität: Die Gams schwitzt ab etwa 10 °C Lufttemperatur und kann mit Kälte gut, mit Wärme aber überhaupt nicht umgehen. Entscheidender Faktor sei weniger die absolute Temperatur, sondern vor allem die Sonneneinstrahlung. CHRISTINE MILLER warf die Frage auf, ob die Null-Linie in früheren Zeiten nicht niedriger gewesen sein könnte, sich dann durch Aktivitäten des Menschen erhöhte und heute wieder erniedrigt? FRIEDRICH REIMOSER entgegnete, dass Verschiebungen früher auch – oder zugleich – am Vorhandensein von Prädatoren gelegen haben könnten. JOSEF ZANDL bemerkte, dass bis zum 2. Weltkrieg intensivere Landwirtschaft vorherrschte, und zwar inklusive Waldweide und auch Wilderei.

Die 5-Minuten-Kurzvorträge starteten mit einem Bericht von ANTON LARCHER (Tiroler Jägerverband) über aktuelle Entwicklungen des Gamswilds in Tirol (→ Infos zum Vortrag Larcher, pdf). Laut Jagdstatistik gehen die Jagdstrecken hier zurück. 2018 wurden ca. 2.000 Gämsen weniger als vor 15 bis 20 Jahren erlegt. Die richtlinienkonforme Jagd führte zu weniger Abschüssen der Klasse I und zu mehr in der Klasse II, was auf eine Übernutzung hindeutet (die Bestandsangaben der Abschussplanung würden sich hier widersprechen). Dies wird auch bei den Trophäenschauen sichtbar: „Es kann nichts nach oben wachsen, wenn zu viel unten geschossen wird”. Die Zuordnung des Wechselwilds ermöglicht eine „gewünschte” Abschussplanung („…oder kommen die aus Bayern herüber?). • RUDOLF REINER berichtete in Vertretung für den an der Teilnahme verhinderten FRITZ VÖLK (Österr. Bundesforste) über Bedeutung und Wandel des Lebensraums für die Gamsbejagung (→ Infos zum Vortrag Völk, pdf): Waldschäden nehmen zu, Das Hauptproblem sei dabei vor allem die Outdoor-Freizeitnutzung, welche sich heute individueller gestaltet als in früheren Zeiten („weg von der Masse!”). Der Borkenkäfer – früher nur in niedrigeren Lagen vorhanden – ist heute bis an der Waldgrenze zu finden. Rot- und Rehwilddichten nehmen zu, ebenso wie Schälung und Verbiss. VÖLK schlägt u. a. vor, Rot- und Rehwild von (saisonal) wichtigen Gamswild-Äsungsmöglichkeiten fern zu halten, bei der Jagd nicht in den Wald abzudrängen und Ruhezonen zu sichern. • LILIANA DAGOSTIN stellte nun den Alpenverein vor (→ Infos zum Vortrag Dagostin, pdf). Mit seinen 570.000 Mitgliedern sei dieser auch ein gesellschaftliches Phänomen. Als großer Grundeigentümer (u. a. im Großglockner-Gebiet) widmet er sich auftragsgemäß dem Naturschutz und ist in dieser Funktion natürlich auch politisch aktiv. • Nach HUBERT SCHATZ (Vorarlberg) befinden sich die besten Gamswildreviere dort, wo die besten Rotwildreviere sind (→ Infos zum Vortrag Schatz, pdf). Er sieht dies als Widerspruch zu einer zuvor geäußerten gegenteiligen Feststellung – was jedoch mit unterschiedlicher Bejagungsweise erklärt werden könnte. Auch die früher hohen Fallwildzahlen könnten vor allem methodisch begründet sein.

→ In der Diskussion kam man bei der schwierigen Lösung des Problems, von Abschussdaten auf Bestandsdaten zu schließen, dazu jenen passenden Zeitraum zu bestimmen, für welchen sie dann gelten sollen, nicht wirklich weiter. Dagegen waren sich die Teilnehmer beim Thema „Freizeitnutzung und Naturschutz” völlig einig: Beides sind konkurrierende Ziele und problematisch sind jene Personen, die sich nicht an die (Naturschutz-) Vorschriften halten. Strafen von beispielsweise 450 Euro für das Entfernen von den Wegen werden mancherorts bereits verhängt. Falsche Toleranz sei unfair gegenüber denen, die sich hier korrekt verhalten. In Betrachtung der Gesamtperspektive verwies HUBERTINE UNDERBERG-RUDER auf die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie: Wer die 5 bis 10 % Verstöße mit Nachdruck in die Schranken weist, erzielt ungleich höhere Erfolge im Gesamtverhalten!

Weitere 5-Minuten-Kurzvorträge eröffnete CHRISTIAN MESSNER (Tierarzt, Schwaz/Tirol) mit Darstellungen verschiedener Gamskrankheiten, u. a. Pasteurellose (Lungenkrankheit), Fasciolose (Leberegel; im Zusammenhang mit intensiver Almbewirtschaftung: Gülle), Infektiöse Keratokonjunktivitis (IKK, Gamsblindheit), Weidekeratitis (Hornhaut- und Bindehautentzündung, gleichartig bei Rindern) und Gamsräude (Hauterkrankung durch Räudemilbe) (→ Infos zum Vortrag Messner, pdf). Leberegel und Magen-Darm-Wurmbefall gibt es vor allem in Nordtirol, im östlichen Teil dominiert die Räude und im westlichen Tirol (Lechtal) die Gamsblindheit, während andere Krankheiten flächendeckend vorkommen (z. B. die Viruserkrankung Papillomatose). Da Medikamente verboten sind, gibt es bei Gams-Krankheiten kaum Behandlungsmöglichkeiten. • RUDOLF PLOCHMANN (Forstbetrieb Bad Tölz) griff das Thema „Wechselwirkung zwischen Gams und Lebensraum” noch einmal auf und stellte die Frage: „Welche potentiellen Lebensraumbedingungen gibt es für die Gams im Wald?” (→ Infos zum Vortrag Plochmann,pdf). Bedeutsam sei für ihn gleichfalls der Einfluss des Baumbestands auf den Gamsbestand, wobei der Tanne eine zentrale Bedeutung zukommt (in Bad Tölz ein selten gewordener „Schlüsselbaum”). Bezüglich der Gamslebensräume/-verteilung sei das Ziel aller Bemühungen die Optimierung des Bestands; noch wichtiger aber die Optimierung des Gesamtsystems, was nur über Kompromisse erreichbar ist.  Die kritischen Bemerkungen von CHRISTINE MILLER zu den Verhältnissen in Bayern versuchte er – zumindest für Bad Tölz – ein wenig abzumildern.

Beendet wurde die Reihe der Vortragenden mit JOSEF STOCK, der an die Anfänge des FUST-Tirol unter ANTONÍN BUBENÍK († 1995) erinnerte. Ein Problem war stets die Umsetzung der Forschungsergebnisse in den Revieren, was im Bereich des FUST sehr gut gelungen sei. Schwierig gestaltete sich dagegen die Verwirklichung von gesetzlichen Vorgaben in die Praxis, was jedoch vor allem auf den Mangel an geeignetem Personal zurückzuführen sei. Außerhalb des FUST waren besonders Kleinreviere mit teurer Pacht betroffen. Deren Planung scheiterte oft an fehlenden Eingangsgrößen und exaktem Datenmaterial; auch war die Definition von „Tragfähigkeit” nicht allen Jägern geläufig und Spezialisten zur Unterstützung standen ihnen oft nicht zur Verfügung. In vielen dieser Fälle konnte der FUST-Tirol mit fachlichem Rat zur Seite stehen und wird sich auch weiterhin bemühen, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.

Die abschließende Ursachendiskussion und -analyse moderierte FRIEDRICH REIMOSER. In ungezwungener Atmosphäre wurden Anmerkungen, Beiträge, Daten und Ansichten engagiert wie auch kontrovers dargestellt und analysiert. Als „roter Faden” erwies sich hierbei der von JOSEF STOCK zuvor genannte Wunsch des FUST-Tirol: „Wir brauchen mehr Umsetzung von dem, was die Wissenschaft erarbeitet hat!” – und zwar nicht statisch, sondern dynamisch, d. h. die Ziele sind zu überprüfen: Was früher als richtig empfunden wurde und gut war, hat sich heute vielfach geändert. Als Beispiele wurden „Waldweide” und „gesunde Waldvegetation” (→ Bestockung, Verjüngung) genannt, aber auch „Wildräume”, die sich an ökologisch belassenen oder sinnvoll gestalteten Landschaften orientieren.

Nach FRIEDRICH REIMOSER lässt sich die Biotopkapazität aus unterschiedlichem Blickwinkel betrachten: „Kapazitätsgrenzen gibt es verschiedene: einerseits aus der Sicht des Wildes (je nach Wildart) und andererseits aus der Sicht des Menschen (je nach Interessengruppe”). Es geht jeweils um Prioritäten und Konsens. Ansprüche Einzelner können nicht beliebig maximiert werden ohne Nachteile für andere. Die Grenzen (Natur- und Kulturlandschaft, Jäger, Freizeit, Landwirtschaft usw.) können zwar nicht beseitigt werden, doch ist ein Konsens anzustreben. Ansprüche sind zu reduzieren. Zwischen den beteiligten Menschen ist Kooperation erforderlich (die in Bayern zu fehlen scheint). Es werden ein integratives (Umwelt-) Management und ein objektives Monitoring benötigt (Erfolgskontrolle, Erreichen des Soll-Zustands). Zum Erreichen nachhaltiger Lösungen braucht es viel mehr als allein die Jagd (u. a. auch Forst, Landwirtschaft, Freizeitbereich, Naturschutz, Verwaltung …). CHRISTINE MILLER verwies hierzu auf die FFH- und EU-Richtlinen, nach denen alle für die Gams potentiell geeigneten Lebensräume auch von der Art besiedelt sein sollen. RUDOLF PLOCHMANN ergänzte, dass Zustand und Nutzung des Waldes gleichfalls einzubeziehen seien.

Diskutiert wurde nun der Einwand, dass viele Waldbesitzer „total uninteressiert” an Wildfragen seien. Bei ihnen stände der Forst im Vordergrund und das Wild käme zu kurz. Vielfach hätte der Forst das Sagen und könne entscheiden, verfüge aber nicht unbedingt über ausreichende ökologische Kompetenz, z. B. hinsichtlich ökologischer Pflanze-Tier-Mensch-Wechselwirkungen im Zusammenhang mit Verbissintensität und Vermeidung von Wildschadensproblemen. Ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zur artgerechten Erhaltung von Waldvegetation und Wild sollten sich die Waldbesitzer daher nicht entziehen können, denn sie sind (zumeist) als Grundeigentümer für Nutzung und Jagd primär verantwortlich (Ausnahmen z. B. in der Schweiz oder in Südtirol, wo das Jagdrecht nicht an das Grundeigentum gebunden ist). Einig waren sich die Teilnehmer bei der Feststellung, dass Forst, Jagd, Naturschutz und Tourismus auf Augenhöhe miteinander kooperieren sollten und Kompromisse anzustreben sind (wird zum Teil schon realisiert, siehe Positivbeispiele). Ebenso muss stets die Öffentlichkeit mitbedacht werden.

Zur Bemerkung von RUDOLF PLOCHMANN, dass demokratische Entscheidungen zu akzeptieren seien, erfolgten mehrere Wortmeldungen. Seiner Aussage sei natürlich zuzustimmen, aber Gesetze sind veränderbar und lassen sich verbessern, was auch oft geschieht. Doch ist der Weg dorthin – der vorpolitische Bereich – sehr oft nicht zielführend, weil interessengesteuert oder ideologisch dominiert. Hier stellt sich die Frage der Legitimierung eines Machtanspruchs, der durch Finanzmittel und Medien verstärkt wird. Als weiteren Player fügte ERICH TASSER (Eurac Research und FUST) den „Lobbyismus” hinzu. Als Beispiel nannte er neben der Landwirtschaft die E-Bike-Industrie, welche sich zuerst/allein an den Bedürfnissen Erholungsuchender orientiert.

Wie geht es weiter? – lautete die Frage in der Themenstellung dieser Fachtagung. FRIEDRICH REIMOSER formulierte mit seinem Schlusswort in Hoffnung und Erwartung die folgende Vision:

Der Dialog ist fortzuführen, vor allem auch mit jenen, die Entscheidungsbefugnis haben. Veränderte Ausgangslagen und Ziele sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Konzepte erfordern Umdenkungsprozesse und müssen auch in politische Entscheidungen einfließen können. Eine nachhaltige, möglichst konfliktfreie Einbindung der Gams in die Kulturlandschaft braucht eine gute Kooperation aller Interessengruppen, die im Gamslebensraum aktiv sind und die Gamspopulationen in ihrer Entwicklung und räumlichen Verteilung beeinflussen. Konfrontation und „Feindbildpflege“ zwischen verschiedenen Lagern sind zu wenig. Auch die Durchsetzung realitätsferner Ideologien, wie sie seitens mancher Gruppen vertreten werden, führt nicht zu Lösung bestehender Probleme. (= sinngemäß zitiert)

HUBERTINE UNDERBERG-RUDER bedankte sich bei den Teilnehmern im Namen des FUST-Tirol für die anregenden Beiträge, kritischen Fragen und interessanten Diskussionen.

GERHARD RUDI PELZ (fust-tirol@aon.at)

Der Autor bittet um Nachsicht, dass bei allen im Text genannten Personen auf die Angabe von Titeln, Ehren- und Berufsbezeichnungen aus Gründen der Textlänge und besseren Lesbarkeit verzichtet wurde.